Johannes Paul II., Birgittenkloster, Tschenstochau |
Liebe Schwestern und Brüder!
1. In unseren früheren Betrachtungen sind wir der Menschheit bei ihrer Begegnung mit Gott gefolgt, der sie erschaffen und der sich auf seinen Straßen auf die Suche nach ihr gemacht hat. Heute werden wir über die höchste Begegnung zwischen Gott und Mensch meditieren, über jene Begegnung nämlich, die sich in Jesus Christus, dem göttlichen Wort, das Fleisch wird und unter uns wohnt (vgl. Joh 1,14), realisiert. Die endgültige Offenbarung Gottes – so bemerkte der hl. Bischof Irenäus von Lyon im 2. Jahrhundert – vollzog sich, als »das Wort Gottes Mensch geworden ist, indem es sich dem Menschen und den Menschen sich assimilierte, damit der Mensch durch seine Ähnlichkeit mit dem Sohne kostbar werde [vor dem Vater] (Adversus haereses V, 16,2; Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 4, Kempten/ München 1912, S. 195). Diese innige Vereinigung zwischen Göttlichem und Menschlichem, die der hl. Bernhard mit dem »Kuß« aus dem Hohenlied vergleicht (vgl. Sermones super Cantica canticorum II), weitet sich in der Person Christi auf die von ihm angesprochenen Menschen aus. Diese Begegnung in Liebe weist verschiedene Dimensionen auf, die wir nun zu erläutern versuchen.
2. Es ist eine Begegnung, die sich im Alltäglichen in Zeit und Raum vollzieht. In diesem Zusammenhang ist der soeben verlesene Abschnitt aus dem Johannesevangelium aufschlußreich (vgl. Joh 1,35–42). Darin finden wir einen genauen zeitlichen Hinweis mit Angabe eines Tages und einer Stunde, eines Ortes und eines Hauses, in dem Jesus lebte. Da gibt es einfache Menschen, die sogar in ihrem Namen von jener Begegnung verändert werden. Wenn Christus den Lebensweg eines Menschen durchkreuzt, so bedeutet dies, daß dessen Entwicklung und dessen Pläne gründlich verändert werden. Als die Fischer aus Galiläa mit Jesus am Ufer des Sees zusammentrafen und seinen Aufruf hörten, »zogen sie die Boote an Land, ließen alles zurück und folgten ihm nach« (Lk 5,11). Es ist eine radikale Wende, die kein Zögern zuläßt und auf einen Weg schickt, der zwar voller Schwierigkeiten, aber auch sehr befreiend ist: »Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach« (Mt 16,24).
3. Wenn Christus den Lebensweg einer Person kreuzt, beunruhigt er ihr Gewissen; er liest in ihrem Herzen wie bei der Samariterin, der er alles sagt, was sie getan hat (vgl. Joh 4,29). Vor allem aber weckt er Reue und Liebe wie bei Zachäus, der die Hälfte seines Vermögens den Armen schenkt und das Vierfache der von ihm zu Unrecht eingetriebenen Beträge zurückgibt (vgl. Lk 19,8). So geschieht es auch mit der reuigen Sünderin, der alle ihre Sünden vergeben werden, »weil sie so viel Liebe gezeigt hat« (Lk 7,47), und mit der Ehebrecherin, die nicht verurteilt, sondern ermahnt wird, ein neues Dasein fern von der Sünde zu führen (vgl. Joh 8,11). Die Begegnung mit Jesus kommt einer Neuerschaffung gleich: Daraus entsteht das neue Geschöpf, zu einer wahren Gottesverehrung fähig, die darin besteht, den Vater »im Geist und in der Wahrheit« anzubeten (Joh 4,23–24).
4. Christus auf dem eigenen Lebensweg zu begegnen bedeutet oft, körperliche Genesung zu finden. Seinen Jüngern gab Jesus den Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden, zu bekehren und die Sünden zu vergeben (vgl. Lk 24,47), aber auch die Kranken zu heilen, von allem Bösen zu befreien, zu trösten und zu stützen. Deshalb riefen die Zwölf »die Menschen zur Umkehr auf. Sie trieben viele Dämonen aus und salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie« (Mk 6,12–13). Christus ist gekommen, um den ganzen Menschen zu suchen, ihm zu begegnen und ihn zu heilen. Als Bedingung für die Rettung fordert Jesus den Glauben, mit dem man sich vollkommen Gott, der in ihm wirkt, hingibt. Der Frau, die an Blutungen litt und als letzte Hoffnung den Saum seines Gewandes berührte, erklärt Jesus deshalb: »Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein« (Mk 5,34).
5. Das Kommen Christi zu uns hat den Zweck, uns zum Vater zu führen, denn »niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht« (Joh 1,18). Diese historische Offenbarung, von Jesus durch seine Gesten und Worte vollbracht, erreicht uns in der Tiefe durch das innerliche Wirken des Vaters (vgl. Mt 16,17; Joh 6,44–45) und durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes (vgl. Joh 14,26; 16,13). Deshalb gießt ihn der auferstandene Jesus als Ursprung für die Vergebung der Sünden (vgl. Joh 20,22–23) und als Quelle göttlicher Liebe in uns aus (vgl. Röm 5,5). So kommt eine trinitarische Gemeinschaft zustande, die schon während des Erdendaseins beginnt und deren Ziel die vollkommene Anschauung ist, wenn »wir ihm ähnlich sein werden […]; denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1 Joh 3,2).
6. Jetzt geht Christus weiter neben uns durch die Straßen der Geschichte – gemäß seinem Versprechen: »Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,20). Er ist gegenwärtig durch sein Wort, »ein Wort, das ruft, das einlädt, das persönlich verpflichtet, so wie es den Aposteln erging. Wenn ein Mensch vom Wort erreicht wird, entsteht der Gehorsam, das heißt das Hören, das das Leben verändert. Der Mönch nährt sich jeden Tag vom Brot des Wortes. Ohne dieses Brot ist er wie tot und hat nichts mehr, was er den Brüdern mitteilen könnte, denn das Wort ist Christus« (Orientale lumen, 10).
Christus ist außerdem gegenwärtig in der Eucharistie, Quelle der Liebe, der Einheit und des Heils. In unseren Kirchen erklingen immer aufs neue die Worte, die er eines Tages in der Synagoge der kleinen Stadt Kafarnaum am See Tiberias sagte. Es sind Worte der Hoffnung und des Lebens: »Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag […]. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich bleibe in ihm« (Joh 6,54.56).
(Generalaudienz, Johannes Paul II., 9. August 2000)
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