Sonntag, 28. Januar 2024

Jesus als der neue Mose

Lesung aus dem Buch Deuteronómium18
(4. Sonntag im Jahreskreis, Markus, 1. Lesung)

Mose sprach zum Volk:
15 Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott,
aus deiner Mitte, unter deinen Brüdern, erstehen lassen.
Auf ihn sollt ihr hören.

16 Der Herr wird ihn als Erfüllung von allem erstehen lassen,
worum du am Horeb, am Tag der Versammlung,
den Herrn, deinen Gott, gebeten hast,
als du sagtest:
Ich kann die donnernde Stimme des Herrn, meines Gottes,
nicht noch einmal hören
und dieses große Feuer nicht noch einmal sehen,
ohne dass ich sterbe.
17 Damals sagte der Herr zu mir:
Was sie von dir verlangen, ist recht.
18 Einen Propheten wie dich
will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen.
Ich will ihm meine Worte in den Mund legen
und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm gebiete.

19 Den aber, der nicht auf meine Worte hört,
die der Prophet in meinem Namen verkünden wird,
ziehe ich selbst zur Rechenschaft.
20 Doch ein Prophet,
der sich anmaßt, in meinem Namen ein Wort zu verkünden,
dessen Verkündigung ich ihm nicht geboten habe,
oder der im Namen anderer Götter spricht,
ein solcher Prophet soll sterben.


Mose übermittelt die zehn Gebote, Salisbury Cathedral

Im ersten Hauptteil „Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung“ wird Jesus als der neue Mose dargestellt. In zehn Kapiteln werden die Taufe Jesu, die Versuchung in der Wüste, die Reich-Gottes-Botschaft, die Bergpredigt, das Vaterunser, die Botschaft der Gleichnisse, die christologischen Bildworte bei Johannes, das Petrusbekenntnis, die Verklärung und die Selbstaussagen Jesu behandelt. Das Persongeheimnis Jesu wird von Benedikt typologisch erschlossen. Das Buch hätte nämlich auch den Titel tragen können: Jesus von Nazareth, der neue Mose. Weil die Landnahme noch nicht als endgültige Befreiung zu verstehen sei, wird im Buch Deuteronomium ein neuer Mose verheißen: „Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte heraus … erstehen lassen, auf ihn sollt ihr hören“ (Dtn 18, 15). Was das Besondere an Mose war, steht am Ende des Deuteronomiums: „Fortan ist kein Prophet mehr in Israel aufgetreten wie Mose, mit dem der Herr von Angesicht zu Angesicht verkehrt hatte …“ (Dtn 34, 10). Darauf baut Benedikt seine Deutung der Gestalt Jesu auf: „Israel darf auf einen neuen Mose hoffen, … Und das eigentliche Kennzeichen dieses ,Propheten‘ wird es sein, dass er mit Gott von Angesicht zu Angesicht wie ein Freund mit dem Freund verkehren wird. Sein Kennzeichen ist die Unmittelbarkeit zu Gott, so dass er Gottes Willen und Wort unverfälscht, aus erster Hand mitteilen kann. Und das ist das Rettende, worauf Israel – worauf die Menschheit – wartet.“

Die Offenbarungsmittlerschaft des Mose hatte nämlich eine Grenze: Die Bitte des Mose „Zeige mir doch deine Herrlichkeit“ (Ex 33, 18ff) wurde von Gott abgelehnt. Mose durfte nur den Rücken Gottes schauen, aber nicht sein Angesicht. Daraus folgert Benedikt, dass Israel einen größeren Propheten erwartete, der Gottes Angesicht schaut: In Jesus hat sich die Verheißung eines neuen Propheten erfüllt, der aus der Schau Gottes spricht. Mit dem Johannesevangelium gesprochen: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1, 18). Jesus kann den Vater offenbaren, weil er „in der Sohnesgemeinschaft mit dem Vater steht“. Eine Deutung der Taufe Jesu als „Berufungserlebnis“ wird von Benedikt abgelehnt.

Im Kapitel über die Bergpredigt tritt die Mose-Typologie wieder ganz deutlich hervor: Jesus ist der neue Mose, er ist der Lehrer Israels, der zu allen Völkern spricht. Der „Berg“ der Seligpreisungen ist der neue Sinai, die Bergpredigt ist die neue Tora, gesprochen aus der Gemeinschaft Jesu mit dem Vater. In der Universalisierung des Glaubens Israels sieht Benedikt eine im Alten Testament angelegte Bewegung, die in Jesus zu ihrem Ziel kommt. Auch hier wird die Mose-Typologie besonders deutlich: Mose steht nicht nur für den Glauben Israels, sondern auch für seine Rechts- und Sozialordnung, die der Messias Jesus nicht mehr als sakral und damit unveränderliches Recht für alle Zeiten versteht.

Mit neuer Radikalität werden etwa in den Antithesen der Bergpredigt (der Berg ist der neue Sinai, der Ort der Gesetzgebung) die grundlegenden Normen, die auf die zweite Tafel des Dekalogs (Mose auf dem Sinai) Bezug nehmen, eingeschärft: Nicht nur nicht töten, sondern dem unversöhnten Bruder entgegengehen, keine Ehescheidung mehr, nicht nur gleiches Recht für alle, sondern sich schlagen lassen ohne zurückzuschlagen, nicht bloß den Nächsten lieben, sondern den Feind. Die bei den Propheten grundgelegte Einheit von Gottes- und Nächstenliebe wird zur obersten Norm. Somit legt Jesus den Grund einmal für die nötigen geschichtlichen Anpassungen der konkreten Rechtsformen durch die Entsakralisierung und zum anderen festigt er die Anbetung des einen wahren Gottes und legt den Grund für die Menschenwürde. 

Darin hat sich die Verheißung erfüllt: „Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte heraus erstehen lassen.“ 

Michael Karger über das Jesus Buch von Joseph Ratzinger, hier

Detail der Verklärung d. Herrn, Salisbury Cathedral;
Jesus als der neue Mose

 

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