"Es gibt keine größere Kraft als die Macht der Zärtlichkeit"
Interview mit Monsignore Maasburg über seine Erinnerungen an Mutter Teresa
Am 27. August wäre die katholische Ordensgründerin Mutter Teresa 100 Jahre alt geworden. Das vierte Gelübde der Missionarinnen der Nächstenliebe, die Verpflichtung zum „Dienst an den Ärmsten der Armen von ganzem Herzen ohne Gegenleistung" bescherte ihr und ihrem Werk weltweit Verehrung, auch von Muslimen, Hindus und Ungläubigen. In den siebziger Jahren lernte „Father Leo" Mutter Teresa kennen, weil ein Bischof ihn als Dolmetscher für tiefer gehende Gespräche mit ihr benötigte. Der Priester Leo Maasburg, sprachgewandt und polyglott, der neben Theologie auch Jura und Politologie in Innsbruck, Oxford und Rom studiert hatte, war bald nach dieser Begegnung für vielfältige Aufgaben eingespannt.
In den Jahren 1985 bis 1991 begleitete er Mutter Teresa regelmäßig. Als Priester, Ratgeber und Übersetzer war er an ihrer Seite, in Rom und Kalkutta, in Moskau und New York, bei den Ärmsten der Armen und bei höchsten Staatsmännern. In ihrer Nähe erlebte er kleine und große Wunder, im wahrsten Sinn des Wortes „wunderbare Geschichten", die er in dem Buch Mutter Teresa. Die wunderbaren Geschichten in diesem Jahr veröffentlicht hat. Leo Maasburg zu jenem Team, das das Seligsprechungsverfahren für Mutter Teresa vorbereitete. Er ist heute Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke (Missio) in Österreich. Michaela Koller sprach mit ihm über das Lebenszeugnis der Seligen.
ZENIT: Welche Tugenden zeichneten Mutter Teresa aus Ihrer Sicht aus?
--Monsignore Maasburg: Güte. Das ist der erste, starke Eindruck, den man bei ihr gewonnen hat. Man hat sich nach kürzester Zeit in ihrer Umgebung ungemein wohl gefühlt und gewusst: 'Diese Frau wird Dich nicht verletzen.' Mit diesem Vertrauen ist dann auch eine Offenheit entstanden. Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, ihr gegenüber Geheimnisse zu haben. Und dann ihre Treue zum Auftrag. Sie hatte einen Lebensrhythmus, der uns Junge bei weitem überfordert hat. Wir sind am Abend todmüde ins Bett gefallen, da ist sie noch in die Kapelle gegangen und hat für ein, zwei Stunden gebetet. Wenn wir um sechs Uhr zur Messe gekommen sind, war sie schon seit drei Uhr früh wieder aufgestanden.
Während ich schon am Rollfeld im Flugzeug geschlafen habe, fing sie bereits an zu beten. Dann hat sie ein dickes Bündel Papier ausgepackt und geschrieben. 'Wenn wir das nicht tun, das will Jesus nicht', sagte sie oft. 'Ich habe Jesus noch nie nein gesagt und werde jetzt in meinem hohen Alter damit nicht anfangen'. Aber sie war nur hart gegen sich selbst, von anderen hat sie dies nicht verlangt.
ZENIT: Und das menschliche Miteinander litt nicht unter der Emsigkeit?
--Monsignore Maasburg: Mutter Teresa hat sehr schnell Situationen erfasst und besonders schnell gemerkt, wenn Spannungen zwischen Menschen oder im Menschen da waren. Sie hat sofort versucht, was sie tun konnte, um diese Spannungen zu lösen, sei es mit einer heiteren Bemerkung oder dass sie jemanden einfach anderswo hingesetzt hat. Darin war sie Meisterin. Sie hat ununterbrochen zwischen Kulturen wandern müssen und das sind ja auch naturgegebene Spannungen. Die hat sie meisterhaft überwunden.
Ich bin einmal zusammen mit circa 20 Ehrenamtlichen in Kalkutta ins Haus gekommen und war am Morgen mit einem vollkommen zerbissenen Arm aufgewacht. Ich dachte erst, es waren Moskitos, aber es waren Wanzen, die in der Matratze gelebt haben. Unter den 20 Leuten hat Mutter Teresa, die immer sehr aufmerksam war, mich sofort angesprochen: 'Father Leo, was haben Sie da?' 'Moskitos', sagte ich. Darauf sie: 'Nein, das ist ein Geschenk Gottes. Sie gehen zum Arzt und ich bete.' Für Mutter Teresa war jedes Leiden ein Geschenk Gottes, das man ihm aufopfern konnte.
ZENIT: Diese Haltung und diese Strenge mit sich selbst ist sicher schwer erreichbar. Inwiefern kann Mutter Teresa konkret ein Vorbild heute sein?
--Monsignore Maasburg: Sie ist ein so breit gefächerter Glanz, dass jeder etwas an ihr für sein Leben entdecken kann. Den einen spricht mehr ihre Sozialaktivität an, den anderen ihre eucharistische Frömmigkeit oder ihre Mystik. Und in jedem dieser „Fächer" ist sie sehr profund. Ich glaube, dass wir noch lange nicht zur Tiefe ihrer Persönlichkeit vorgedrungen sind. Ganz sicherlich wird Mutter Teresa eines Tages zu Kirchenlehrerin ernannt. Wir haben über 5.400 profunde ausgiebige theologische Schriften von ihr vorliegen, zu einzelnen Gruppen, für Familien, für Kinder, für Theologen, für Ordensleute und so weiter, die sie auf ihren Reisen geschrieben hat. Jeden Monat hat sie eine Ordensmitteilung geschrieben, die immer spirituellen Inhalts war. Da wird noch viel herauskommen.
ZENIT: Mutter Teresa wurde dennoch vorgeworfen, zu nachgiebig gegenüber korrupten oder diktatorischen Systemen zu sein....
--Monsignore Maasburg: Sie war Ordensfrau und nicht Politikerin. Die wundertätigen Medaillen, die sie mit großer Begeisterung verteilt hat, hat sie jedem gegeben und dabei machte sie keinen Unterschied, ob es Daniel Ortega [erste Präsidentschaft in Nicaragua von 1985 bis 1990, Anm. d. Red.], Präsident Ronald Reagan oder Michail Gorbatschow war. Sie hat auch gleich dem Sekretär daneben, oder wer gerade vorbei gekommen ist, eine geschenkt. Sie hat in erster Linie den Menschen gesehen und nicht seine Funktion. Sie ist jedem persönlich von Herz zu Herz begegnet und hat immer versucht, ihn in irgendeiner Weise mit Christus in Kontakt zu bringen.
ZENIT: Kritische Stimmen waren auch im Hinblick auf die Behandlungsmethoden der Schwestern zu vernehmen. Sie haben aber selbst eigene Beobachtungen gemacht und wissen auch um die Entstehung der Sterbehauses.
--Monsignore Maasburg: Das Sterbehaus ist schon ein tolles Phänomen. Wie ist es zustande gekommen? Mutter Teresa sah eines Tages, ganz am Anfang ihres Dienstes, eine Person auf der Straße im Graben liegen und entdeckte, dass sie im Sterben lag. Sie nahm ihr letztes Geld, rief eine Rikscha und fuhr zum Spital, um sie dort abzugeben. Im Spital bat man sie eine Kaution zu hinterlegen. Sie hatte diese Summe nicht und auch nicht die Person. Dann ist sie in den Armen von Mutter Teresa vor dem Spital gestorben. Dieses erschütternde und prägende Erlebnis war das Motiv das Sterbehaus einzurichten. Es war nicht als Ersatzspital gedacht, sondern nur für die vorgesehen, die niemanden und nichts hatten, eben für die Ärmsten der Armen.
Wenn die Schwestern feststellten, dass eine Krankheit zu behandeln war, die sie nicht kurieren konnten, und sich bereits ein Spital bereit erklärt hatte, die Patienten zu übernehmen, haben sie sie selbstverständlich dorthin gebracht. Daran hat Mutter Teresa sehr gearbeitet. Sie hat in verschiedenen Spitälern Freunde gehabt, wo sie jemanden hinverlegen konnte. Was den Missionarinnen der Nächstenliebe noch wichtiger ist: Dass die Menschen geliebt und mit Würde behandelt werden und im Notfall eben nicht einsam und verlassen sterben.
Mutter Teresa hat oft die Geschichte von einem Mann erzählt, den sie von der Straße aufgeklaubt hat und der zum Teil schon von den Würmern aufgefressen war. Er schaute sie an und sagte: 'Ich habe mein Leben lang wie ein Tier gelebt, in der Gosse, und jetzt sterbe ich geliebt und umsorgt wie ein Engel.' Er starb mit einem schönen Lächeln, berichtete sie. Das war der Sinn der Tätigkeit im Sterbehaus, die Würde des Menschen herauszustellen, auch des Ärmsten der Armen. Genau dies tun die Schwestern bis heute.
ZENIT: Wie ging Mutter Teresa selbst mit Leid und Schmerz um?
--Monsignore Maasburg: Ich glaube, dass sie sehr, sehr viel physisch gelitten hat. Über den physischen Schmerz wird sie vermutlich gesagt haben: 'Das ist ein Geschenk Gottes. Das kann ich ihm darbringen.' Kurz vor ihrem Tod war eine Schwester bei ihr, als sie bereits sterbenskrank war, und hat Mutter Teresa fragen hören: 'Jesus, ist da noch irgendetwas, was ich für Dich tun kann?'
Sie hat aber auch sehr viel moralisches Leid erfahren, weil sie so viel Eigeninteressen und menschliche Schwäche gesehen hat, auch in der Kirche. Da hat sie sicher sehr darunter gelitten. Sie war nie aggressiv. Auch wenn ihr jemand die dümmsten Sachen gesagt hat, versuchte sie einen Witz daraus zu machen, oder es zu überhören. Sie hat ihren Schwestern gesagt: 'Die Art, wie Du Menschen anschaust, die Art, wie Du Menschen zulächelst, die Art, wie Du sie berührst, das zeigt ihnen, ob Du sie liebst. Es gibt keine größere Kraft als die Macht der Zärtlichkeit.'
ZENIT: Wie erklärte die Ordensgründerin leidvolle Erfahrungen theologisch?
--Monsignore Maasburg: Ich habe sie einmal gefragt, warum es so viel Leid in Afrika gibt, warum sich dieser Kontinent nicht entwickelt. Sie antwortete: 'Father, wir denken über diese Sache nicht nach. Wir sehen dieses Leid und wir helfen, wie wir können.' Die zu akademische, theoretisch bleibende Theologie lag nicht in ihrem Interesse. Was bei ihr ausgeprägt war, war die kontemplative Reflexion und die zupackende Nächstenliebe.
[Leo Maasburg, Mutter Teresa - Die wunderbaren Geschichten, Pattloch Verlag, München 2010, 240 Seiten]
uspr. veröffentlicht auf zenit.org, WIEN, 2. August 2010
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