Am Abend des Neujahrstages 1866 erzählte Don Bosco
vor der versammelten Schar seiner Jungen den folgenden Traum:
“Mir
schien es, als befände ich mich irgendwo in der Nähe von Castelnuovo d'Asti; es
war aber anderswo. Alle Jungen des Oratoriums spielten vergnügt auf einer
großen Wiese. Da kamen plötzlich Wasserfluten heran. Eine Überschwemmung drohte
uns von allen Seiten. Das Wasser schwoll ständig an und kam immer näher. Der Po
war über seine Ufer getreten und gewaltige, alles verheerende Wassermassen
überfluteten das Land
Von
Schreck überwältigt eilten wir auf eine große, alleinstehende Mühle zu, deren
Mauern so dick waren wie die einer Festung. In ihrem Hof blieb ich mit meinen
Jungen stehen. Die Wassermassen drangen aber bis dorthin vor. So waren wir alle
gezwungen, uns in das Haus zurückzuziehen. Bald mußten wir sogar die obersten
Räume beziehen. Vom Fenster aus überschauten wir die Überschwemmung. Die
Wasserfläche reichte wie ein ungeheurer See von den Hügeln bei Superga bis zu
den Alpenwiesen. Wir sahen die Wasserfläche, aber keine bebauten Felder,
Gemüsegärten, Wälder, Bauernhöfe, auch keine Dörfer und Städte mehr. Beim
Ansteigen des Wassers waren wir bis in den obersten Stock des Gebäudes
gestiegen. Da alle Hoffnung auf menschliche Hilfe geschwunden war, begann ich,
meinen lieben Jungen Mut zu machen. Ich sagte ihnen, sie sollten sich mit
vollstem Vertrauen den Händen Gottes überlassen und in die Arme unserer lieben
himmlischen Mutter flüchten.
Bald
jedoch war das Wasser sogar bis zum obersten Stock gestiegen. Da waren alle
sehr erschrocken. Wir sahen keine andere Rettung mehr, als uns auf ein großes
Floß, eine Art Schiff, zurückzuziehen, das in jenem Augenblick aufgetaucht war
und nahe an uns vorbeischwamm.
Jeder
atmete bei dessen Anblick erleichtert auf und versuchte, sich als erster zu
retten. Es wagte aber doch keiner, weil das Schiff sich dem Haus nicht ganz
nähern konnte. Eine Mauer, die etwas aus dem Wasser ragte, hinderte es daran.
Um hinüber zu kommen, bot sich nur ein langer, schmaler Baumstamm als
Hilfsmittel. Es war jedoch sehr schwer hinüberzugehen, denn der Stamm ruhte mit
einem Ende auf dem Boot und senkte sich mit diesem, wenn es von den Wellen
geschaukelt wurde.
Ich
faßte Mut und ging als erster hinüber. Um die Jungen zu beruhigen und das
Überschreiten zu erleichtern, bestimmte ich einige Kleriker oder Priester,
welche die Übersteigenden etwas stützen und den Ankommenden vom Boote aus die
Hand reichen sollten. Aber merkwürdig, von dieser leichten Arbeit wurden die
Kleriker und Priester so müde, daß der eine hier, der andere dort vor Ermüdung
umsank. Das gleiche geschah auch jenen, die an ihre Stelle traten. Verwundert
wollte ich es selber einmal probieren. Ich fühlte mich jedoch auch bald so
matt, daß ich mich nicht mehr halten konnte. Indessen machten sich viele
ungeduldige Jungen, vielleicht aus Angst oder um sich mutig zu zeigen, eine
zweite Brücke. Sie hatten nämlich ein Brett gefunden, das lang genug und noch
etwas breiter war als der Baumstamm. Sie warteten aber nicht auf die
Hilfestellung der Kleriker und Priester, sondern wollten voreilig hinüberlaufen.
Sie hörten auch nicht auf meine Warnung. Ich rief ihnen zu: “Halt, halt, wenn
ihr nicht hineinfallen wollt!” So geschah es, daß viele, die von anderen
gestoßen wurden oder das Gleichgewicht verloren, hinunterfielen und das Boot
nicht erreichten. Von den trüben und faulen Wasserfluten wurden sie
verschlungen und man sah sie nicht mehr. Bald sank dann die eigens gebaute
Brücke ein mit allen, die darauf standen. Ihre Zahl war groß; ein Viertel all
unserer Jungen wurde ein Opfer ihres Eigenwillens.
Bis
jetzt hatte ich das eine Ende des Baumstammes festgehalten, derweil die Jungen
hinübergingen. Da gewahrte ich, daß das Wasser noch über die hindernde Mauer
gestiegen war und fand Mittel, das Floß dicht an die Mühle zu stoßen. Dort
stand noch Don Cagliero mit dem einen Bein auf der Fenstermauer und mit dem
andern auf dem Rand des Bootes. So ließ er die Jungen hinüberspringen, die noch
in den Räumen der Mühle zurückgeblieben waren. Er reichte ihnen die Hand und
half ihnen sicher auf das Floß.
Aber
noch waren nicht alle Jungen gerettet. Einige waren auf den Speicher und von
dort aus auf das Dach geklettert. Auf der höchsten Stelle hatten sie sich dicht
aneinander gedrängt, während die Überschwemmung unaufhörlich stieg, ohne einen
Augenblick auszusetzen. Schon hatte sie die Dachrinne überflutet und bedeckte
einen Teil der Dachränder. Mit dem Wasser war aber auch das Boot gestiegen. Ich
beobachtete die armen Jungen, die in so schrecklicher Bedrängnis waren, und
rief ihnen zu, sie sollten recht innig beten, sich ganz still verhalten und mit
den Armen ineinandergelegt herunterkommen, um nicht auszugleiten. Sie
gehorchten und als das Floß an die Dachrinne herankam, gelangten alle von ihren
Kameraden unterstützt, an Bord. Hier sah man in vielen Körben eine Menge Brot.
Als wir alle auf dem Floß waren — immer noch unsicher, ob wir dieser Gefahr
entrinnen würden — übernahm ich als Kapitän das Kommando und sagte zu den
Jungen: “Maria ist der Meeresstern, sie verläßt keinen, der auf sie vertraut.
Stellen wir uns alle unter ihren Schutz. Sie wird uns aus diesen Gefahren
erretten und in einen ruhigen Hafen führen.”
Darauf
überließen wir das Schiff den Wellen. Es kam in Bewegung, schwamm ruhig und
bewegte sich von jenem Ort. (Facta est quasi navis institoris, de longe portans
panem suum — es gleicht dem Schiff eines Kaufmanns und trägt von weit her sein
Brot. Spr. 31/14.)
Die
vom Winde gepeitschten Wogen stießen das Floß so schnell, daß wir, um nicht
herunter zu fallen, uns eng aneinander drückten und gleichsam nur einen Körper
bildeten.
Nachdem
wir in kurzer Zeit eine große Strecke zurückgelegt hatten, hielt das Floß
plötzlich an, drehte sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit um sich selbst.
Es schien unterzugehen. Aber ein sehr heftiger Wind trieb es aus dem Strudel heraus.
Dann schlug es einen regelmäßigeren Kurs ein. Wohl kam hin und wieder ein
Wirbel, aber auch der rettende Wind und bald hielt das Schiff an einem
trockenen Gestade. Es schien ein Hügel zu sein, der mitten aus dem Meer
hervorragte und sehr schön aussah.
Viele
Jungen waren davon ganz bezaubert. Sie sagten auch, der Herr habe die Menschen
auf die Erde und nicht auf das Wasser gesetzt. Und ohne um Erlaubnis zu fragen,
verließen sie jubelnd das Floß, luden uns auch ein, ihnen zu folgen und stiegen
ans Ufer. Ihre Zufriedenheit dauerte aber nicht lange, denn die Fluten
schwollen wieder an und bei einem plötzlichen Wüten eines gewaltigen Sturmes
stiegen sie am Ufer empor. Nun stießen die unglücklichen Jungen verzweifelte
Schreie aus. Sie standen bald bis an die Hüften im Wasser und verschwanden
kopfüber in den Fluten. Da rief ich: “Ja, es ist wirklich wahr. “Wer nach
seinem eigenen Kopf handeln will, muß aus seinem eigenen Geldbeutel bezahlen.”
Das
Schiff drohte wiederum in der Gewalt des Sturmes unterzugehen. Ich schaute auf
meine Jungen; sie waren bleich im Gesicht und keuchten. “Habt nur Mut”, rief
ich ihnen zu, “Maria wird uns nicht verlassen. ” Wir verrichteten nun gemeinsam
die Akte des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe und der Reue und beteten dann noch
einige Vaterunser und Gegrüßte seist du Maria und zum Schluß noch das Salve
Regina. Darauf hielten wir uns noch einmal knieend bei den Händen und jeder
betete still für sich weiter. Trotz der Gefahr blieben einige jedoch ziemlich
gleichgültig. Sie hatten sich aufgestellt, gingen hin und her, als wenn nichts
wäre, lachten miteinander und machten sich fast lustig über die betende Haltung
ihrer Kameraden. Da hielt das Schiff ganz plötzlich an, drehte sich schnell um
die eigene Achse und ein wütender Sturm schleuderte jene Unglückseligen in die
Fluten. Es waren dreißig Jungen. Kaum lagen sie in dem tiefen schlammigen
Wasser, sah man nichts mehr von ihnen. Wir stimmten das Salve Regina an und
flehten mehr denn je aus tiefstem Herzen um den Schutz des Meeressterns Maria.
Nun
wurde es ruhig. Das Schiff schwamm wie ein Fisch immer weiter und wir wußten
nicht, wohin es uns bringen würde. An Bord wurde eifrig und fortdauernd eine
Rettungsaktion betrieben und alles getan, um zu verhindern, daß noch mehr
Jungen ins Wasser fielen. Man gab sich auch alle Mühe, die Hineingefallenen zu
retten. Es waren ja immer wieder einige, die sich unvorsichtig über die
niedrigen Ränder des Floßes lehnten und ins Wasser fielen. Selbst ungezogene
und schlimme Jungen waren dort, die ihre Kameraden an den Rand des Floßes
riefen und dann ins Wasser stießen. Deswegen besorgten einige Priester kräftige
Stangen und dicke Stricke und Angelhaken. Andere befestigten die Haken an den
Stangen und teilten sie an einzelne aus. Manche standen schon mit erhobenen
Stangen auf Posten. Sie schauten gespannt auf das Wasser und lauschten
aufmerksam auf jeden Hilferuf. Kaum fiel ein Junge hinein, dann senkte sich die
Stange und der Schiffbrüchige klammerte sich an das Seil oder wurde mit dem
Haken an den Kleidern oder am Gürtel gepackt, herausgezogen und gerettet. Doch
gab es auch Jungen, welche die Arbeit der Angler und der Kameraden, die
Angelhaken bereiteten und verteilten, störten und behinderten. Die Kleriker
hielten überall Aufsicht, um die Jungen in Ordnung zu halten; es waren nämlich
viele.
Ich
stand unter einer hohen Flagge, die in der Mitte aufgepflanzt war. Um mich
herum waren viele Jungen, Priester und Kleriker, die meine Anordnungen
ausführten. So lange sie fügsam waren und meinen Worten willig folgten, ging
alles gut. Wir waren ruhig, zufrieden und fühlten uns sicher. Aber bald fanden
einige das Floß unbequem. Sie fürchteten eine lange Reise, beklagten sich über
die Gefahren und Entbehrungen, stritten um den Ort der Landung und überlegten,
ob man nicht eine andere Zuflucht finden könnte. Sie gaben sich der törichten
Hoffnung hin, es sei Land in der Nähe, wo man sichere Unterkunft finden könnte.
Sie vermuteten, unser Proviant würde ausgehen und fragten sich untereinander,
ob man nicht doch den Gehorsam verweigern sollte. Vergebens suchte ich sie mit
Vernunftsgründen zu bewegen und zu überzeugen.
Plötzlich
waren andere Flöße in Sicht. Sie nahmen jedoch einen anderen Kurs, als sie in
unserer Nähe waren. Da beschlossen einige unkluge Jungen, sich von mir zu
entfernen, ihren Launen zu folgen und selbst einen Versuch zu machen. Sie
warfen einige Bretter ins Wasser, die auf unserem Floß lagen, und sie
entdeckten auch einige, die nicht weit entfernt im Wasser schwammen und
ziemlich breit waren. Sie sprangen darauf und entfernten sich auf ihnen. Es war
eine unbeschreiblich schmerzliche Szene für mich. Sah ich doch diese
Unglücklichen ihrem Untergang entgegentreiben. Der Wind blies scharf und die
Wellen wurden stark bewegt. Einige Jungen versanken und wurden wild hin‑ und
hergeschleudert. Andere gerieten in einen Strudel und wurden in die Tiefe
gerissen. Wieder andere stießen auf Hindernisse an der Wasseroberfläche und
verschwanden kopfüber in den Tiefen. Einigen gelang es, auf eines der Flöße zu
springen, versanken aber bald darauf. Die Nacht war finster und schwarz. Von
weitem hörte man die herzzerreißenden Schreie der Ertrinkenden. Alle gingen
unter. ‚In mare mundi submergentur omes illi quos non suscipit navis ista‘m —
Im Meere der Welt gehen alle unter, die nicht von diesem Boote — dem Schiff
Mariens — aufgenommen werden.
Die
Zahl meiner lieben Jungen war nun stark verringert. Trotzdem vertrauten wir
weiter auf den Schutz der Gottesmutter. Nach einer langen, finsteren Nacht fuhr
das Schiff in eine schmale Meerenge hinein. Diese befand sich zwischen zwei
schlammigen Ufern, die mit Gestrüpp, dicken Felsbrocken, Kieselsteinen,
Baumstämmen, Reisig, Stücken von Leichen, Balken und Rudern bedeckt waren. Um
das Floß herum sah man Taranteln, Kröten, Schlangen, Drachen, Krokodile,
Quallen, Vipern und tausend andere häßliche Tiere. Auf Trauerweiden, deren
Zweige bis auf unser Floß hingen, standen vierfüßige Tiere, Riesenkatzen von
ungewohnter Form, die Teile von menschlichen Gliedern zerfleischten. Auch viele
Affen baumelten von den Zweigen herab und machten Anstrengungen, die Jungen zu
fassen und herunterzuschleudern. Diese bückten sich aber geschickt und
entgingen so den Nachstellungen. Auf jenem Kiesgrund war es auch, wo wir zu
unserer großen Überraschung und voll Schrecken die armen Kameraden wiedersahen,
die wir verloren hatten oder die uns verlassen hatten. Nach dem Schiffbruch
waren sie auf diesen Strand geworfen worden. Bei einigen von ihnen waren die
Gliedmaßen durch den heftigen Anprall gegen die Klippen zerstückelt. Andere
waren im Sumpf versunken und man sah von ihnen nur noch die Haare und einen
halben Arm. Hier ragte ein Rücken, dort ein Kopf aus dem Schlamm heraus. Auch
sahen wir einen Leichnam. Und plötzlich erscholl die Stimme eines Jungen, der
auf dem Floß war und rief: “Dort ist ein Scheusal, welches das Fleisch des so
und so frißt!” Wiederholt rief er den Namen des Unglücklichen und zeigte ihn
den erschrockenen Kameraden.
Noch
ein anderes Bild zeigte sich unseren Augen. Nicht weit entfernt davon erhob sich
ein gewaltiger Feuerofen, in dem eine gewaltige, heiße Glut loderte. Man sah
darin bunt durcheinander gewürfelt menschliche Körperteile, Füße, Beine, Arme,
Hände, Köpfe. Sie alle rührten sich, kamen nach oben und verschwanden wieder in
den Flammen, gleichwie Gemüse im Kochtopf. Bei genauer Betrachtung erkannten
wir voll Schrecken viele unserer Schüler. Über dem Feuer war etwas wie ein
gewaltiger Deckel. Darauf stand geschrieben: Das sechste und das siebente
führen hierher.”
In
der Nähe war ein weiter, hoher Hügel, bedeckt mit zahlreichen bunt
durcheinanderstehenden Wildbäumen. Dort hielten sich viele unserer Jungen auf,
die ins Wasser gefallen waren oder sich im Laufe der Fahrt von uns entfernt
hatten. Ich stieg an Land, ohne auf die Gefahr zu achten, und näherte mich
ihnen. Da sah ich ihre Augen, Ohren, ihr Haar und sogar ihre Herzen voller
Insekten und häßlicher Würmer, die ihnen heftige Schmerzen bereiteten. Einer
litt mehr als der andere. Ich wollte mich einem von ihnen nähern, doch er lief
davon und verbarg sich hinter den Bäumen. Einige öffneten vor Schmerz ihre
Kleider und zeigten ihren von Schlangen umwundenen Körper. Manche hatten Vipern
an der Brust.
Da
zeigte ich allen eine Quelle, die reichlich frisches und eisenhaltiges Wasser
gab. Wer sich darin wusch, wurde im Augenblick geheilt und konnte zum Floß
zurückkehren. Die meisten dieser Unglücklichen folgten meiner Weisung, einige
aber weigerten sich. Darauf verließ ich die Zaudernden und wandte mich an jene,
die gesund geworden waren. Sie hatten meiner Bitte entsprochen und waren
sogleich in Sicherheit; denn die Scheusale hatten sich verkrochen. Kaum
befanden wir uns auf dem Floß, da verließ es, vom Winde getrieben, die Meerenge
nach einer anderen Seite hin und gelangte erneut in einen weiten Ozean ohne
Grenzen.
Wir
alle beklagten das traurige Los und das bedauernswerte Ende unserer Kameraden,
die an jenem Ort zurückgeblieben waren. Dann fingen wir an, das Lob Mariens zu
singen als Dank für den Schutz, den uns die Gottesmutter gewährt hatte. Wie auf
Befehl Mariens hörte ganz plötzlich das Sturmesbrausen auf und das Schiff fuhr
schnell und mit einer unglaublichen Leichtigkeit auf den geglätteten Wogen
dahin. Und siehe, am Himmel erschien ein wunderbarer Regenbogen, der sich in
ein Nordlicht verwandelte. Im Dahinfahren lasen wir darin das Wort “MEDOUM”.
Seine Bedeutung wußten wir jedoch nicht. Mir schien es aber, daß jeder
Buchstabe der Anfangsbuchstabe folgender Worte sei: ‚Mater et Domina Omnis
Universi Maria — Maria ist die Mutter und Herrin der ganzen Welt. '
Nach
einer langen Fahrt tauchte in weiter Ferne am Horizont Land auf. Während wir
immer näher kamen, empfanden wir in unserem Herzen eine unaussprechliche
Freude; denn dieses Land war überaus schön. Es hatte Wälder mit den
verschiedensten Bäumen. Es bot einen entzückenden Anblick und war von der
aufgehenden Sonne beleuchtet, die über die Hügel schien. Dieses Licht besaß
einen unsagbar beruhigenden Glanz, gleichwie der Sonnenschein an einem
herrlichen Sommerabend. Es strömte ein Gefühl der Ruhe und des Friedens aus.
Schließlich stieß das Boot in den Sand des Strandes hinein und rutschte sogar
noch ein Stück im Sand weiter hinauf. Es hielt ganz im Trockenen am Fuße eines
herrlichen Weinberges. Von diesem Floß darf man wohl sagen: “Eam tu Deus pontem
fecisti, quo a mundi fluctibus traicientes ad tranquillum portum tuum
deveniamus — O Gott, Du hast es zu einer Brücke gemacht, auf der wir die Fluten
des Meeres überqueren und so Deinen ruhigen Hafen erreichen konnten.”
Die
Jungen wünschten sogleich in den Weinberg zu gehen und einige, neugieriger als
die andern, waren mit einem Sprung draußen auf dem Strand. Sie hatten aber nur
einige Schritte gemacht, da erinnerten sie sich an das traurige Geschick jener,
die sich vorher vom Land betören ließen, das mitten im stürmischen Meer gelegen
hatte, und sie kehrten eilig auf das Floß zurück.
Aller
Augen waren auf mich gerichtet und man las in jedem Gesicht die Frage: “Don
Bosco, ist es Zeit auszusteigen oder müssen wir noch hier bleiben?” Ich
überlegte kurz und sagte dann zu ihnen: “Aussteigen. Nun ist es Zeit, wir sind
jetzt sicher.”
Ein
allgemeiner Freudenruf erscholl. Alle rieben sich zufrieden die Hände und
betraten den Weinberg in bester Ordnung. Von den Reben hingen große Trauben
herab wie im Gelobten Land, und auf den Bäumen waren Früchte aller Art von
einem nie gekosteten Geschmack. Sie waren eine wahre Labung in der warmen
Jahreszeit. Mitten in diesem ausgedehnten Weinberg erhob sich ein Schloß, das
von einem herrlichen königlichen Garten mit starken Mauern umgeben war.
Wir
lenkten unsere Schritte dorthin, um es zu besichtigen. Es wurde uns freier
Eintritt gewährt. Wir waren müde und hungrig. In einem weiten mit Gold
gezierten Saal stand ein für uns gedeckter Tisch. Darauf befanden sich die
auserlesensten Speisen aller Art. Ein jeder durfte ganz nach Belieben davon
nehmen. Als wir uns gut gestärkt hatten, trat ein edler, fein gekleideter
Jüngling von unbeschreiblicher Anmut ein. Er begrüßte uns alle mit herzlich
vertrauter Höflichkeit und nannte uns alle dabei mit Namen. Er bemerkte unser
Erstaunen über seine Schönheit und über all das Geschaute und sagte: “Das ist
noch gar nichts. Kommt und sehet!” Wir folgten ihm. Er ließ uns nun von der
Säulenhalle aus die Gärten betrachten und sagte, diese ständen uns zur Erholung
ganz zur Verfügung. Dann führte er uns von Saal zu Saal, von denen einer
prächtiger war als der andere in Bauweise, Säulenarten und Ornamenten. Dann
öffnete er die Türe zu einer Kapelle und lud uns zu einem Besuch ein. Von außen
schien die Kapelle klein zu sein; aber kaum hatten wir ihre Schwelle
überschritten, da gewahrten wir ihre große Ausdehnung, so daß wir von einem
Ende kaum das andere sehen konnten. Der Boden, die Gewölbe und die Wände waren
so reich und so kunstvoll mit Marmor, Silber, Gold und kostbaren Edelsteinen
geziert, daß ich außer mir vor Verwunderung ausrief: “Das ist ja eine
himmlische Pracht. Ich verpflichte mich vertraglich, immer hier zu bleiben.”
Mitten
in diesem großen Dom erhob sich auf einem prächtigen Grund ein großes,
herrliches Standbild Mariens, der Helferin der Christen. Nachdem wir die Jungen,
die sich nach allen Richtungen hin zerstreut hatten, um die Schönheit des
heiligen Raumes genauer zu betrachten, wieder gesammelt hatten, zog unsere
ganze Schar zu diesem Muttergottesbilde, um der reinsten Jungfrau für so viele
erwiesene Wohltaten zu danken. Da gewahrte ich erst so richtig, wie groß diese
Kirche war; denn die Tausende von Jungen schienen nur eine kleine Gruppe in
ihrer Mitte zu sein.
Nun
standen die Jungen vor dem Marienbild und betrachteten es. Das Antlitz der
Gottesmutter war himmlisch‑schön. Plötzlich schien sich das Bild zu bewegen und
zu lächeln. Darauf erfolgte ein Murmeln und eine Bewegung in der Menge. Einige
riefen aus: “Die Madonna bewegt die Augen!” In der Tat richtete Maria mit
unaussprechlicher Güte ihre Augen auf die Jungen. Kurz darauf erscholl ein
zweiter Ruf von allen: “Die Gottesmutter bewegt die Hände!” In der Tat breitete
sie langsam ihre Arme aus und hob ihren Mantel, als wollte sie uns alle
darunternehmen. Vor Erschütterung liefen uns die Tränen über die Wangen. Und
wieder sagten einige: “Die Madonna bewegt die Lippen. ” Es wurde nun
mäuschenstill. Maria öffnete den Mund und redete uns mit wohlklingender und
überaus lieblicher Stimme mit den Worten an: “Wenn ihr meine lieben und treu
ergebenen Kinder seid, werde ich euch eine gütige Mutter sein.”
Bei
diesen Worten fielen wir alle auf die Knie und sangen das Lied: “Lobet Maria,
ihr gläubigen Zungen. ” So endete die Vision. —
Seht,
meine lieben Jungen! In diesem Traum erkennen wir das stürmische Meer dieser
Welt. Wenn ihr folgsam seid, wenn ihr meinen Weisungen und nicht den schlechten
Ratgebern folgt, wenn wir uns alle anstrengen, das Gute zu tun und das Böse zu
fliehen und alle unsere schlechten Neigungen bekämpfen, dann werden wir am Ende
unseres Lebens an diesen sicheren Strand gelangen. Dort wird uns ein Bote
Mariens entgegenkommen und uns im Namen Gottes heimholen, damit wir uns von
unseren Mühen ausruhen, und zwar in einem königlichen Garten, d. h. im Himmel,
in seiner liebenswerten, göttlichen Gegenwart. Wenn ihr aber das Gegenteil von
dem tut, was ich euch sage, wenn ihr nach euren eigenen Launen gehen wollt und
auf mich nicht hört, dann werdet ihr elenden Schiffbruch erleiden.”
(Lem.
VIII, 282-283)
Don Bosco gab später noch
weitere Erklärungen zu diesem Traum. Er sagte:
“Die Wiese ist die Welt; das
Wasser, das uns zu verschlingen drohte, sind die Gefahren dieser Welt. Die so
weit ausgedehnte, furchtbare Überschwemmung sind die Laster, die antireligiösen
Grundsätze und die Verfolgung der Guten. Die Mühle ist ein einsamer, ruhiger
Platz, der immer bedroht ist, es ist das Haus des Brotes, die katholische
Kirche. Die Körbe mit Brot versinnbilden die heilige Eucharistie, die den
Fahrern als Wegzehrung dient. Das Floß ist das Oratorium; der Baumstamm, der die
Brücke von der Mühle zum Floß bildete, ist das Kreuz, besonders das Opfer
seiner selbst für Gott in christlich ergebener Abtötung. Die Meerenge, die
Katzen, Affen und die übrigen Ungetüme sind die schlechten Gelegenheiten und
Versuchungen zur Sünde. Die Insekten in den Augen, auf der Zunge, im Herzen
sind schlechte Blicke, gemeine Reden und ungeordnete Neigungen.
Der Brunnen mit
eisenhaltigem Wasser, das die Kraft hatte, alle Insekten zu töten und im
Augenblick zu heilen, sind die Sakramente der heiligen Beichte und der heiligen
Kommunion. Der Schlamm ist der Ort der Sünde und das Feuer der Ort der
Verdammnis. Man möge jedoch wissen, daß nicht alle, die in den Schlamm fielen,
die man dann nicht mehr sah und die dann in den Flammen brannten, auf ewig zur
Hölle verdammt seien. Nein! Gott bewahre uns davor, so etwas zu sagen. Es
bedeutet aber, daß sich diese in jenem Augenblick in der Ungnade Gottes
befanden, und wären sie in diesem Zustande gestorben, dann wären sie auf ewig
verlorengegangen.”
(Quelle)