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Ermordung der unschuldigen Kinder, Notre Dame de la Chapelle, Brüssel
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BENEDIKT XVI.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 28. Dezember 2005
Lesung: Psalm 139,13–18.23–24
13 Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
14 Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke.
15 Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen.
16 Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles
verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen
da war.
17 Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken, wie gewaltig ist ihre Zahl!
18 Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand. Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir.
23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich, und erkenne mein Denken!
24 Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt, und leite mich auf dem altbewährten Weg!
Liebe Brüder und Schwestern!
1. In dieser Generalaudienz am Mittwoch in der
Weihnachtsoktav, dem liturgischen Fest der Unschuldigen Kinder, nehmen
wir unsere Meditation über Psalm 139 wieder auf, dessen betende
Betrachtung in der Liturgie der Vesper in zwei getrennten
Abschnitten vorgegeben wird. Nachdem wir im ersten Teil (vgl. V. 1–12)
den allwissenden und allmächtigen Gott, den Herrn des Seins und der
Geschichte, betrachtet haben, richtet dieser Weisheitshymnus von großer
Schönheit und tiefer Empfindung den Blick nun auf die höchste und
wunderbarste Wirklichkeit des ganzen Universums, den Menschen, der als
»Wunder« Gottes bezeichnet wird (vgl. V. 14). Es handelt sich
tatsächlich um ein Thema, das in tiefer Übereinstimmung mit der
weihnachtlichen Atmosphäre steht, die wir in diesen Tagen erleben, in
denen wir das große Geheimnis des Sohnes Gottes feiern, der zu unserem
Heil Mensch, ja ein Kind geworden ist.
Nachdem wir den Blick und die Gegenwart des Schöpfers
betrachtet haben, die das ganze Universum erfassen, richtet sich der
liebevolle Blick Gottes im zweiten Teil, den wir heute meditieren, auf
den Menschen, der schon am Anfang seines Daseins vollkommen ist. Er
»entstand « im Mutterleib: Das an dieser Stelle verwendete hebräische
Wort wurde von einigen Bibelwissenschaftlern als Hinweis auf den
»Embryo« verstanden, der mit diesem Begriff als ein kleines
zusammengerolltes Oval beschrieben wird, auf das sich aber schon der
wohlwollende und liebevolle Blick der Augen Gottes richtet (vgl. V. 16).
2. Um das göttliche Handeln im Mutterleib zu
beschreiben, greift der Psalmist auf die klassischen biblischen Bilder
zurück, während der Leben schenkende Schoß der Mutter mit den »Tiefen
der Erde« verglichen wird, das heißt mit der unaufhörlichen Lebenskraft
der großen Mutter Erde (vgl. V. 15).
Vor allem verweist der Text auf das Symbol des Töpfers
und des Bildhauers, der sein Kunstwerk, sein Meisterwerk »formt«, ihm
Gestalt verleiht, genau so wie im Buch Genesis über die Erschaffung des
Menschen gesagt wird: »Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde
vom Ackerboden« (Gen 2,7). Auch auf das Symbol des »Webens« wird
Bezug genommen, das die Zartheit der Haut, des Fleisches und der Nerven,
die über das aus Knochen bestehende Skelett »geflochten« werden, in
Erinnerung ruft. Auch Ijob bezieht sich wirkungsvoll auf diese und
andere Bilder, um jenes Meisterwerk zu preisen, das die menschliche
Person ist, auch wenn sie vom Leiden heimgesucht und verwundet wird:
»Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht… Denk daran, daß du wie
Ton mich geschaffen hast… Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie
Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet,
mit Knochen und Sehnen mich durchflochten« (Ijob 10,8–11).
3. In unserem Psalm ist die Vorstellung sehr stark, daß
Gott schon die gesamte Zukunft des entstehenden Embryos sieht: Im Buch
des Lebens des Herrn sind schon alle Tage verzeichnet, die dieses
Geschöpf erleben und im Laufe seiner irdischen Existenz mit Taten
erfüllen wird. So tritt wieder die transzendente Größe des göttlichen
Wissens hervor, das nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart der
Menschheit umfaßt, sondern auch die noch verborgene Zeitspanne der
Zukunft. Aber es scheint auch die Größe dieses kleinen, noch nicht
geborenen menschlichen Geschöpfes auf, das die Hände Gottes geschaffen
haben und dessen Liebe es umfängt: ein biblischer Lobpreis des Menschen
vom ersten Augenblick seiner Existenz an.
Jetzt wollen wir uns den Überlegungen anvertrauen, die der hl. Gregor der Große in seinen Homilien zu Ezechiel über
den von uns eben kommentierten Psalmvers angestellt hat: »Deine Augen
sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet« (V.
16). Zu diesen Worten hat der Papst und Kirchenvater eine originelle
und einfühlsame Meditation verfaßt über diejenigen, die in der
christlichen Gemeinschaft auf ihrem geistlichen Weg die Schwächsten
sind.
Er sagt, daß auch sie, die im Glauben und im
christlichen Leben schwach sind, ein Teil des Kirchenbaus sind, daß sie
»dennoch dazugehören … kraft ihres guten Wollens. Es ist wahr, sie sind
klein und unvollkommen, dennoch lieben sie, soweit sie es verstehen
können, Gott und den Nächsten und unterlassen es nicht, das Gute zu tun,
das sie tun können. Auch wenn sie noch nicht die geistlichen Gaben
erreichen, so daß sie ihren Geist der Vollkommenheit und der
Kontemplation öffnen, so weichen sie doch nicht vor der Liebe zu Gott
und zum Nächsten zurück, in dem Maße, in dem sie fähig sind, dies zu
verstehen. Dadurch geschieht es, daß auch sie zum Aufbau der Kirche
beitragen, auch wenn sie an einer weniger wichtigen Stelle stehen. Denn
obwohl sie in Bezug auf das Wissen, Prophetie, Wundergabe und
vollständige Loslösung von der Welt auf niedrigerer Stufe stehen, ruhen
sie doch auf dem Fundament der Furcht und der Liebe, in dem sie ihre
Festigkeit finden« (2,3,12–13; vgl. Opere di Gregorio Magno, III/2, Rom 1993, Ss. 79,81).
Die Botschaft des hl. Gregor ist für uns alle, die wir
oft nur mühsam auf dem Weg des geistlichen und des kirchlichen Lebens
vorankommen, ein großer Trost. Der Herr kennt uns, und er umgibt uns
alle mit seiner Liebe.
Die Katechese am heutigen Fest der Unschuldigen Kinder befaßt sich mit dem zweiten Teil von Psalm 139.
Der Psalmist stellt uns darin die allmächtige und liebevolle Zuwendung
Gottes vor Augen, die einen jeden Menschen vom Mutterschoß an begleitet.
Gott kennt unsere Vergangenheit und hat einen Plan für unser Leben, den
er uns Schritt für Schritt zu erkennen gibt. Darum können wir allezeit
vertrauensvoll mit dem Psalm beten: „Sieh her, ob ich auf dem Weg bin,
der dich kränkt, und leite mich auf dem altbewährten Weg!“ (V. 24).
Diesen „altbewährten Weg“ beschreibt Gregor der Große in einer Predigt:
Gott und den Nächsten lieben und das Gute nicht unterlassen, das wir zu
tun vermögen.