Dienstag, 22. Dezember 2015

Meine Seele preist die Größe des Herrn


Meine Seele preist die Größe des Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.

Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Denn der Mächtige hat Großes an mir getan
und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.

Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.

Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen,
das er unsern Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
(aus dem Tagesevangelium)
 
Heimsuchung, rumänisch-orthodoxe Kirche, Knittelfeld

Liebe Brüder und Schwestern

1. Wir sind jetzt am Ende des langen Weges angekommen, den vor nunmehr fünf Jahren, im Frühjahr 2001, mein geliebter Vorgänger, der unvergeßliche Papst Johannes Paul II., begonnen hatte. Der große Papst hatte in seinen Katechesen die gesamte Abfolge der Psalmen und Hymnen durchlaufen wollen, die den fundamentalen Gebetsschatz der Liturgie der Laudes und der Vesper bilden. Nachdem wir nun an das Ende unserer Pilgerreise durch diese Texte gelangt sind, die einer Reise in den blühenden Garten des Lobpreises, der Anrufung, des Gebets und der beschaulichen Betrachtung gleicht, geben wir heute jenem Gesang Raum, der jede Feier der Vesper ideell besiegelt, dem Magnifikat (Lk 1, 46–55).

Es ist ein Gesang, der mit aller Zartheit die Spiritualität der biblischen anawim enthüllt, das heißt jener Gläubigen, die sich als »Arme« verstehen, und zwar nicht nur in der Abkehr von jeder Vergötzung des Reichtums und der Macht, sondern auch in der tiefen Demut des Herzens, das, frei von der Versuchung des Stolzes, offen ist für das Hereinbrechen der heilbringenden göttlichen Gnade. Das ganze Magnifikat, das wir soeben von der Sixtinischen Kapelle gehört haben, ist in der Tat von dieser »Demut«, im Griechischen tapeinosis, gekennzeichnet, die auf eine Situation konkreter Niedrigkeit und Armut hinweist.

2. Der erste Satz des marianischen Lobgesanges (vgl. Lk 1,46–50) ist eine Art Solostimme, die sich zum Himmel erhebt, um den Herrn zu erreichen. Wir hören die Stimme der allerseligsten Jungfrau, die so von ihrem Retter spricht, der in ihrer Seele und in ihrem Leib Großes getan hat. Man beachte nämlich, daß beständig in der ersten Person gesprochen wird: »Meine Seele …, mein Geist …, mein Retter …, sie preisen mich selig …, er hat Großes an mir getan«. Die Seele des Gebets ist also die Feier der göttlichen Gnade, die in das Herz und die Existenz Mariens hereingebrochen ist und sie zur Mutter des Herrn werden ließ.

Inhalt und Gestalt ihres gesungenen Gebets ist der Lobpreis, der Dank, die anerkennende Freude. Aber dieses persönliche Zeugnis ist nicht das auf einen einzelnen beschränkte, intime, rein individualistische Zeugnis, denn die Jungfrau Maria ist sich bewußt, daß sie einen Auftrag für die Menschheit zu erfüllen hat und ihr Schicksal sich in die Heilsgeschichte einfügt. Und so kann sie sagen: »Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten« (V. 50). Mit diesem Lob des Herrn verleiht die selige Jungfrau allen erlösten Geschöpfen, die in ihrem »Fiat« und somit in der Gestalt des von der Jungfrau geborenen Jesus das Erbarmen Gottes finden, eine Stimme.

3. An dieser Stelle beginnt der zweite poetisch- spirituelle Satz des Magnifikat (V. 51–55). Er hat die Merkmale eines Chorgesangs, so als vereinigte sich mit der Stimme Mariens jene der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen, die die überraschenden Ratschlüsse Gottes preisen. Im griechischen Urtext des Lukasevangeliums haben wir sieben Verben im Aorist, die auf ebenso viele Taten hinweisen, die der Herr fortwährend in der Geschichte vollbringt: »Er vollbringt machtvolle Taten …, er zerstreut die im Herzen voll Hochmut sind…, er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen …, die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen…, er nimmt sich seines Knechtes Israel an«.

In diesen sieben göttlichen Werken wird der »Stil« offenkundig, an dem der Herr der Geschichte sein Verhalten inspiriert: Er stellt sich auf die Seite der Letzten, der Geringsten. Sein Plan ist oft hinter dem undurchsichtigen Bereich der menschlichen Angelegenheiten verborgen, in denen »die Hochmütigen, Mächtigen und Reichen« zu triumphieren scheinen. Doch die geheimnisvolle Kraft des göttlichen Heilsplanes ist dazu bestimmt, schließlich enthüllt zu werden, um zu zeigen, wer die wahren Erwählten Gottes sind: »Jene, die ihn fürchten«, die seinem Wort treu sind; »die Demütigen, die Hungernden, sein Knecht Israel«, das heißt, die Gemeinschaft des Gottesvolkes, das wie Maria aus denen besteht, die »arm«, rein und einfachen Herzens sind. Das ist jene »kleine Herde«, die eingeladen ist, sich nicht zu fürchten, weil der Vater beschlossen hat, ihr sein Reich zu geben (vgl. Lk 12, 32). Und so lädt uns dieser Hymnus ein, uns der kleinen Herde anzuschließen und in der Reinheit und Einfachheit des Herzens, in der Liebe Gottes wirklich Glieder des Volkes Gottes zu sein.

4. Hören wir nun die Einladung, die der hl. Ambrosius in seinem Kommentar zum Text des Magnifikat an uns richtet; der große Kirchenlehrer sagt: »In jeder Seele sei Marias Seele, daß sie groß mache den Herrn, in jeder sei der Geist Marias, daß er frohlocke in Gott! Gibt es auch nur eine leibliche Mutter Christi, so ist doch in der Ordnung des Glaubens Christus die Frucht aller. Denn jede Seele empfängt Gottes Wort … Groß macht aber die Seele Marias den Herrn und froh jubelt ihr Geist in Gott, weil sie mit Seele und Geist, dem Vater und dem Sohne hingegeben, frommen Sinnes den einen Gott, aus dem alles ist, und den einen Herrn, durch den alles ist, verehrt « (Hl. Ambrosius von Mailand, Kommentar zum Lukasevangelium, 2, 26–27, in: Ausgewählte Schriften aus dem Lateinischen übersetzt, 2. Band, Kempten/München 1915, S. 65–66)

In diesem wunderbaren Kommentar des hl. Ambrosius zum Magnifikat berührt mich immer wieder ganz besonders das erstaunliche Wort: »Gibt es auch nur eine leibliche Mutter Christi, so ist doch in der Ordnung des Glaubens Christus die Frucht aller. Denn jede Seele empfängt Gottes Wort«. So lädt uns der heilige Gelehrte mit der Auslegung der Worte der Muttergottes ein, dafür zu sorgen, daß der Herr in unserer Seele und in unserem Leben eine bleibende Wohnstatt findet. Wir sollen ihn nicht nur im Herzen tragen, sondern müssen ihn in die Welt tragen, so daß Christus auch durch uns zur Frucht für unsere Zeit wird. Bitten wir den Herrn, daß er uns helfe, ihn mit dem Geist und der Seele Mariens zu preisen und Christus wieder in unsere Welt zu tragen.

(Generalaudienz vom 15.2.2006, Benedikt XVI)

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